... derselbe graue Himmel - eine alte, verschlissene Matratze, die
unter dem Gewicht des schlafenden Gottes bis auf die Erde durchhing.
Ein solcher Himmel lässt nichts Gutes erwarten, im Jahr 1918 so wenig
wie im Jahr 1998. Die Zeit dazwischen dauerte ein Menschenalter, aber
davon ist hier nicht die Rede, denn der Dichter und politische Kommissar
Pjotr Pustota kann sich aus seiner Zeit nur retten, wenn ein ganzes Menschenalter
dazwischen liegt, so dass ihm kein Zeitgenosse mehr schaden kann. Injektionen
in den Körper gespritzt und Buddhas kleiner Finger auf die Welt gerichtet
helfen bei Aussichtslosigkeit, bei kleineren Problemen tut es auch Alkohol
oder Kokain (oder eine Gipsfigur).
Gott im Himmel schläft und auf der Erde herrscht Aufbruchstimmung.
Die Helden des Aufbruchs fegen mit der Tatschanka durch die Steppe oder
rollen mit einem 600er Mercedes über die Straßen. Sie sind
es, die bestimmen, wie es weitergeht, denn sie wissen im voraus, woher
der Wind pfeifen wird, so dass sich auch die Ansicht vertreten lässt,
sie bestimmen, woher der Wind pfeift. Diese Helden sind es, die auf den
Sockeln der Plätze stehen, wenn der Aufbruch vorbei ist und eben
darum beschworen wird, die Götzen fürs Volk aus Stein oder Metall,
vom Volk zu Witzfiguren erhoben und von Tauben beschissen. Einer von ihnen
ist Wassili Tschapajew. Natürlich ist dieser Mensch in Wirklichkeit
weder ein Held noch eine Witzfigur gewesen, aber da die Wirklichkeit ohnehin
nicht sichtbar ist, weil sie von der Wirklichkeit des Scheins überdeckt
wird, könnte Wassili Tschapajew genauso gut auch als Meister des
Seins und des Nichts leben oder gelebt haben - oder sagen wir einfach:
erscheinen, da er ja quasi Unsterblichkeit erlangt hat. Neben Tschapajew,
der erst am Ende zeigt, zu was er fähig ist, und ansonsten eher als
philosophierender Schwätzer auftritt, gibt es auch andere Meister.
Der schwarze Baron ist der Beleuchter des Schattenreichs. Er lässt
verschwinden, was ist und macht sichtbar, was nicht mehr ist; auf der
Klinge seines Schwertes spiegelt sich die Vergangenheit. Sein Schwert
ist aber nicht nur ein Spiegel, der Raum und Zeit überwindet, sondern
auch ein Mordinstrument (obwohl der Revolver natürlich praktischer
ist). Der schwarze Baron hat Zugang zur realen Welt wie der Tod, damit
er sein Schattenreich mit Neuzugängen versorgen kann. Aber er ist
wohl nicht der einzige, der dies kann, denn er beklagt sich über
unerwünschte Bewohner seines Reichs. Er ist auch nicht so mächtig
wie Tschapajew, der mit seinem Maschinengewehr sogar das Schattenreich
vernichten kann. Denn hinterher bleibt (sagt der Baron) gar
nichts mehr übrig, nicht einmal ein Nirgendwo.
Auch Kawabata ist ein Meister, allerdings ein sehr irdischer. Er beherrscht
nicht das Sein und das Nichts wie Tschapajew, nicht die Perspektive über
Raum- und Zeitgrenzen hinweg wie der Baron, sondern die Form als Mittel
gegen das Chaos. Deswegen ist er so förmlich; ihm fehlt Melancholie
und Humor. Er scherzt nur selten, und wenn, dann kündigt er das durch
ein lautloses Lachen an, um dem Scherz das Unerwartete zu nehmen.
Deswegen versteht er auch keine Witze. Ein Witz hat das Unerwartete zur
Voraussetzung, und das Unerwartete kommt aus dem allgemeinen Chaos, das
er so fürchtet. Kawabata ist ein Meister des Rituals, weil es ihm
gelingt, Serdjuk zum Harikiri zu überreden, dem wertvollsten aller
Rituale, denn dieses beweist, dass ein Ritual noch wertvoller sein kann
als das eigene Leben. Allerdings gibt es für Kawabata noch etwas
Wertvolleres: Geld. (Wenn es darum geht, brüllt er in den Telefonhörer
hinein, da verliert er alle Förmlichkeit.)
Sogar das Filmidol Arnold Schwarzenegger tritt in diesem Roman als Meister
auf, wenn er auch auf einem anderen Niveau agiert. Für den Schwulen
Maria jedenfalls ist er einer.
Die Insassen des Irrenhauses sind Opfer von Meistern: Wolodin ist ein
Opfer vom schwarzen Baron, Serdjuk von Kawabata und Maria von Schwarzenegger.
Und Pjotr von Tschapajew. Oder ist Tschapajews sein Retter?
Pjotr ist intelligent. Intelligenz ist eine Eigenschaft, die sich darin
äußert, dass derjenige, der sie benutzt, beliebige Standpunkte
einnehmen kann. Pustota steht für die russische Intelligenzia. Fragen,
die sich nicht eindeutig beantworten lassen, sind wichtiger als anerkannte
Werte, weil diejenigen, die sie stellen, eigene Werte haben. Sie dürfen
solche Fragen stellen, wenn sie andere dazu bringen, keine zu stellen.
Dafür bekommen sie von den Mächtigen Werte. Sind die Intellektuellen
Opfer oder Günstlinge der Macht?
Anna ist Maschinengewehrschützin, sie stellt keine Fragen. Daher
lohnt es sich auch nicht, Fragen an sie zu stellen. Natürlich könnte
man sich fragen, wie sie damit zufrieden sein kann, aber das wäre
ja schon ein erster Gedanke an Weltverbesserung.
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