Margriet de Moor: Erst grau dann weiß dann blau
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Woran
denkst du? Sag mir, woran du denkst, damit ich deine Gedanken analysieren
und interpretieren kann. Je genauer du mir erklärst, wie du was erlebst,
desdo genauer kann ich dir dein Leben erklären. Ich will alles wissen.
Ich bedränge dich am Tag, mir deine intimsten Geheimnisse preiszugeben,
und ich wecke dich in der Nacht, um zu erfahren, was du gerade träumst,
bevor du es vergisst. Du musst mir alles sagen. Du schadest dir nur
selbst, wenn du mir etwas verschweigst, denn je genauer ich über dich
Bescheid weiß, desdo besser kann ich entscheiden, was für dich gut
ist. Antworte! Ich bestehe darauf, denn ich habe das Recht dazu, schließlich
liebe ich dich. |
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Der
totalitäre Liebhaber |
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Robert mutet Magda einiges zu. Sie bricht ihr Literaturstudium ab, verlässt
Gaspé in Kanada und zieht mit ihm in eine abgelegene Berghütte in den
Cevennen, wo sie - vollkommen abhängig von ihm - vor seiner Staffelei
Modell steht und seinen maßlosen Besitzansprüchen ausgesetzt ist. Außer
für ihn da zu sein, hat sie nichts zu tun. Ihr Kinderwunsch bleibt unerfüllt:
drei Fehlgeburten muss sie erleiden. Wie hält sie das alles aus? Als Robert
mit dem Malen aufhört und sich in den Kopf setzt, die abgewirtschaftete
Fabrik seines Vaters zu übernehmen, begleitet sie ihn auch dorthin, trotz
des damit verbundenen finanziellen Risikos und obwohl sie kein Wort niederländisch
versteht. Sie freundet sich mit der Frau seines besten Freundes an und
kümmert sich bis zur Selbstverleugnung um seine garstige Mutter.
Da Robert nun tagsüber in der Fabrik ist, hat Magda endlich Zeit
für sich, besucht Sprachkurse und nimmt Übersetzungstätigkeiten an, die
ihr etwas finanzielle Unabhängigkeit verschaffen. In dieser Zeit scheint
sie zu begreifen, dass sie ein eigenes Leben hat. Warum erst jetzt, mit
40 Jahren? Sie sei etwas zu naiv und schwer von Begriff, meinen die Leute
in der kleinen Gemeinde am holländischen Strand, aber das können auch
einfach nur Sprachprobleme sein. Zumindest für ihre Naivität jedoch
spricht einiges, vor allem ihre Rückkehr. Oder kehrt sie zurück,
um sich mit ihrer Schweigsamkeit an Robert zu rächen? Sie weiß
ja, dass er das nicht aushält.
Robert scheint seinen Visionen nur dann zu trauen, wenn er einen Menschen
hat, der ihn durch seine bedingungslose Ergebenheit darin bestärkt.
Da dies auf Dauer entweder zum Abbruch der Beziehung oder zur Apathie
des anderen führt, müssen Roberts Vorhaben scheitern. Dies war
in den Cevennen so, nachdem Magda immer gleichgültiger wurde, und
dies deutet sich auch schon in der Fabrik an, deren Erfolg zunehmend von
Zijderveldt abhängt und der sich deswegen wohl kaum auf Dauer Robert
unterordnen wird.
Gabriel ist Autist. Er lässt sich nicht zu etwas bewegen, was er
ablehnt. Die Gründe für seine Ablehnung sind für andere
kaum nachvollziehbar, und er erklärt sie auch nicht. Man kann ihn
nicht manipulieren, man muss ihn nehmen, wie er ist, muss ihn lassen,
was er tut, auch wenn er morgens mit geröteten Augen aus seinem Zimmer
kommt, weil er sich mal wieder die ganze Nacht davon überzeugt hat,
dass die Sterne noch da sind. Nur mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen
kann man ihn dazu bringen, dass er sich wenigstens nicht selbst schadet.
Zärtlichkeiten weicht er aus. Man muss ihn lieben, damit er überleben
kann, doch er selbst kann nicht lieben. Als Belohnung gibt es "nur"
Gabriels Freude am Leben. Doch was ist Liebe denn anderes, als Leben ermöglichen
und fördern? - Robert verlangt von Magda so viel Selbstlosigkeit,
wie Gabriel sie braucht. Aber Gabriel verlangt sie nicht!
Magdas Reise zu den Stationen ihres Lebens verläuft ungewöhnlich
glücklich. Sie wird wiedererkannt und überall freudig aufgenommen.
Vielleicht glaubt sie aufgrund dieser Erfahrung, das sich das in Holland
wiederholen werde und kehrt deswegen zurück. Sie ist nun kein bloßes
Anhängsel von Robert mehr, sondern ein Individuum mit einer eigenen
Geschichte. Eine Persönlichkeit jedoch, die gelassen etwas über
sich erzählen kann ohne die Furcht, kritisiert oder manipuliert zu
werden, ist sie auf ihrer Reise nicht geworden. Sie kann nach wie vor
nicht auf andere eingehen, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Ihr penetrantes
Schweigen wird nicht nur von Robert als Vertrauensbruch gewertet. Doch
vielleicht will sie ihn gerade damit kränken.
Mir fiel es schwer, die Missgunst der Dorfbewohner und den Mord von Robert
zu verstehen. Das mag daran liegen, dass ich als Leser im Gegensatz zu
den Dorfbewohnern ja weiß, was Magda während der zwei Jahre
ihrer Abwesenheit getrieben hat. Wäre es nicht besser gewesen, auch
die Leser im Ungewissen zu lassen? Das hat sich die Autorin bestimmt auch
gefragt. Aber wer wüsste denn besser als Margriet de Moor, wieviel
Verdruss eine nicht erzählte Geschichte bereiten kann?
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